Donnerstag, 17. November 2011
Das Unwetter
Es ist immer schwer, sich spontan eine Geschichte auszudenken, ganz ohne Anhaltspunkte, an denen man sich orientieren kann.
Um dieses Problem zu lösen, kann man beispielsweise auf Bilder zurückgreifen, um welche man das Geschehen konstruiert.
Das zumindest habe ich bei der folgenden Geschichte getan:


Ein Knall durchriss die Stille.
Einer der Fensterläden hatte sich gelöst und schlug nun unruhig gegen die Hauswand draußen. Der Wind heulte kalt, als er sich durch den schmalen Kippspalt des Fensters zwängte und dabei an den Vorhängen riss.
Es war eine stürmische Nacht.
Alptraumgeplagter Schlaf verleitete den Mann im Sessel dazu, sich hin und her zu wälzen. Das Cognacglas in seiner Hand kippte dabei bedrohlich.
Schon seit Tagen hatte er kaum ein Auge zugetan. Hatte versucht, die Flut aus Bildern, die ihn nachts heimsuchte, mit Alkohol zu ertränken.
Ein erneuter Knall der Fensterläden riss ihn aus dem Schlaf.
Müde und angespannt rieb er sich mit den Fingern über die Augen. Vielleicht, so hoffte er, könne er die Bilder damit wegsperren.
Das Tosen des Windes vor dem Haus wurde immer stärker. Mühsam richtete er sich aus seinem Sessel auf, in welchen er zuvor erschöpft gesunken war, und näherte sich dem Fenster.
Eigenartig. Er konnte sich nicht daran erinnern, es geöffnet zu haben. Im Windzug fröstelte er.
Die Hand hatte er bereits zum Griff erhoben, als sein Blick auf etwas viel, das da im Garten stand. Eine Silhouette, beinahe menschlich, schien zu ihm hinaufzublicken. Plötzlich schnürte Panik ihm die Kehle zu.
Ein Blitz zuckte durch die Nacht und offenbarte ihm, was er beobachtet hatte. Es war der neue Setzling, den seine Frau hatte einpflanzen lassen. Er war ihm zuwider. Konnte er verstehen, was seine Frau an diesem Hobby, dem Garten, fand? Nein, das konnte er nicht. Ohnehin verstand er sie mit jedem Jahr, das sie zusammenlebten, weniger. Es gab nicht mehr viel, das sie gemeinsam hatten. Überstürzt hatten sie geheiratet. Mittlerweile zweifelte er selbst daran, ob er sie überhaupt geliebt hatte.
Wieder polterten die Läden. Irgendwo im Haus fiel eine Tür zu. Ob es am Windzug lag oder nicht, konnte er nicht sagen.
Er beschloss, nachzusehen. Zum Schlafen würde er in dieser Nacht ohnehin nicht mehr kommen. Leise, darum bemüht, kein Geräusch zu machen, wandte er sich dem Flur zu, schlich den langen Gang entlang und schließlich die Treppe hinunter.
In einem der Räume brannte Licht. Je näher er dem Zimmer kam, desto langsamer wurden seine Schritte. Im Türrahmen blieb er schließlich stehen.
Zuerst dachte er, der Raum wäre leer. Dann, halb verborgen vom Raumtrenner, entdeckte er jemanden.
Es war seine Frau. Erleichtert atmete er aus. Erst da bemerkte er, dass er die Luft angehalten hatte. Die Sache von damals machte ihm wohl doch noch mehr zu schaffen als er geahnt hätte.
Sie bemerkte ihn nicht. Unverwandt ließ er den Blick auf ihr ruhen. Sie war schön gewesen, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. Sie war es immer noch. Doch die Gefühle, die er damals für sie empfunden zu haben glaubte – gab es überhaupt welche? – waren verblasst.
Was machte sie hier? Um diese Urzeit?
Mit einem Räuspern machte er auf sich aufmerksam. Erschrocken wandte sie sich um. Als sie ihn erblickte, zeigte sich etwas wie Erleichterung in ihrem Blick.
„Warum schläfst du nicht?“, fragte er sie.
„Dasselbe könnte ich dich auch fragen“, kam die Antwort. Stille folgte, in der sie ihn einfach nur ansah.
„Du hattest Albträume“, unterbrach sie sie schließlich. Es war keine Frage. Niedergeschlagen senkte er den Blick.
„Ich dachte, wenn ich dem Ganzen ein wenig Zeit geben würde… Vielleicht würde es sich legen…“
„Sieht nicht so aus.“ Ihr Ton war fast einfühlsam. Langsam stand sie auf und kam auf ihn zu.
„Was immer damals passiert ist: es ist vorbei. Du kannst es nicht ungeschehen machen. Aber es wird nicht wieder geschehen.“
„Woher willst du das wissen?“
„Ich weiß es einfach.“ Nun lag Wärme in ihrer Stimme. Sie standen sich jetzt direkt gegenüber.
Ein erneutes Krachen durchriss die Stille. Unruhig wandte er sich um.
„Es ist nichts. Nur der Wind.“
Er machte Anstalten, nachzusehen. Sie hielt ihn zurück. Wieder: „Es ist nur der Wind.“
Langsam entspannte er sich. Beruhigte sich in ihrer Gegenwart. Ihre Hände lagen noch auf seinen Schultern. Es fühlte sich gut an.
Lange sah er sie an. Vielleicht war ja doch noch nicht alles verloren.
Das Tosen des Windes ebbte langsam ab.

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